"Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt."
Du hast Dich in Deiner künstlerischen Tätigkeit dem Daumenkino verschrieben. Was macht für Dich den Reiz dieser Technik aus?
Während meines Studiums an der Filmhochschule stellte ich fest, dass meine Liebe nicht dem großen Film für die Leinwand oder dem Bildschirm gilt, sondern einer kleinen Sonderform des Films, die apparatefrei funktioniert und in jede Westentasche passt: dem fotografischen Daumenkino. In meiner Auseinandersetzung mit Daumenkinos beschäftigte ich mich hauptsächlich mit Porträts von Menschen. Die 36 Bilder, aus denen meine Daumenkinofilme bestehen und die im Kino oder im Fernsehen in 1,5 Sekunden an uns vorbei ziehen würden, entfalten im Daumenkino durch ihre Wiederholbarkeit und den Abstand, dass die Leerstellen zwischen den Bildern spürbar sind und ergänzt werden müssen, große Kraft und Poesie. Mit meiner motorisierten analogen Spiegelreflexkamera belichte ich innerhalb von 12 Sekunden einen kompletten Kleinbildfilm. Das beständige Rattern der Kameras zwingt die Menschen, die ich fotografiere, ihre Posen aufzugeben, die sie bewusst oder unbewusst einnahmen, wenn ich meine Kamera auf sie richte. Ihre Gesten und Emotionen entstehen so aus dem Augenblick heraus und zeigen eine unmittelbare Schönheit des Wahren und Wesentlichen. Diese Momente sind der Kern meiner Arbeit.
Wie entstehen Deine Daumenkinos?
Im Sommer 2002 baute ich aus einem alten Küchentablett einen Bauchladen. Sechs meiner Daumenkinos passten darauf. Vor den Bauchladen hängte ich ein Schild mit der Aufschrift "Bitte besuchen Sie meine Wanderausstellung". Ich lief durch Berlin und zeigte den Menschen meine Filme. Unter den Bauchladen hatte ich ein leeres Honigglas geschraubt, dahinein konnten die Besucher meiner Ausstellung einen symbolischen "Austritt" werfen. Nachdem ich auf diese Weise innerhalb eines knappen Jahres vielen Menschen meine Daumenkinos gezeigt und dabei festgestellt hatte, dass es offensichtlich ein großes Bedürfnis gibt, kleine, einfache Geschichten erzählt und gezeigt zu bekommen, beschloss ich, auf die Walz zu gehen. Ich wollte herausfinden, wie die Menschen auf dem Land auf meine Filme reagieren würden, außerdem wollte ich neue Daumenkinos fotografieren. Im Frühsommer 2003 lief ich los. Da ich Angst hatte, etwas zu verpassen, wenn ich zu schnell reisen würde, ging ich zu Fuß - 1.200 Kilometer von Berlin bis nach Basel. Den Bauchladen trug ich während dieser Zeit stets vor mir her. Ich zeigte meine Daumenkinos Menschen am Straßenrand und über den Gartenzaun, besuchte Dorffeste und ging abends in Kneipen und Restaurants. Geld nahm ich nicht mit. Ich schlief im Zelt und lebte ausschließlich von dem, was mir die Besucher meiner Ausstellung gaben. Manchmal war es eine Spende, manchmal tauschte ich den Besuch meiner Filme gegen etwas zu essen ein.
Inzwischen bin ich fast jeden Sommer aufgebrochen, habe knapp 4.000 Kilometer zurückgelegt und dabei fast ein Jahr auf Wanderschaft gelebt. Immer wieder stelle ich fest, wie aufregend und überraschend das Leben ist, wenn man losläuft, ohne zu wissen, was als Nächstes kommt. Das Prinzip meiner ersten Wanderschaft habe ich beibehalten: Ich nehme kein Geld und finanziere meine Wanderschaften ausschließlich durch das Zeigen meiner Daumenkinos, die ich jeden Tag auf meinem Bauchladen vor mir hertrage. So führen mich meine alten Daumenkinos stets zu neuen Geschichten und neuen Gesichtern.
Worum geht es Dir auf Deinen Wanderungen?
So wie ich mich für die Lücken zwischen den Bildern meiner Daumenkinos interessiere, für das, was beim schnellen Durchlaufen verloren geht, interessiere ich mich auf meinen Wanderschaften für die "Leerstellen" zwischen den Städten, die man normalerweise per Auto, Bahn oder Flugzeug rasch überwindet. Ich interessiere mich für die Begebenheiten am Wegesrand, die man beim schnellen Reisen übersieht. Insbesondere aber interessiere ich mich für die Menschen, denen ich unterwegs begegne. Wie leben sie, was bewegt sie? Welche Geschichten erzählen sie mir, dem Fremden? Wie reagieren Menschen in unterschiedlichen Städten, in Vorgärten und auf Dorfplätzen auf meine Kunst?
Was waren das für Menschen, denen Du unterwegs begegnet bist?
Ich traf einen alten Mann, der die Welt verbessern wollte und dabei fast verhungert wäre, einen Tischlergesellen auf der Walz, der kurz bevor er loszog seine Freundin kennen lernte, und eine junge Frau, die sich im Urlaub für ein neues Leben entschied. Ich begegnete einem Mann, der in einem Wohnwagen lebt und sich mit einem Spruch aus einem alten chinesischen Buch über die Natur des Wanderns von mir verabschiedete, eine Frau, die davon träumte, den Regen auf ihrer nackten Kopfhaut zu spüren, und einen alten Mann, der mir das Bett zeigte, in dem seine Frau gestorben war.
Auf Deiner Webseite steht etwas von einem Bühnenprogramm. Was muss man sich darunter vorstellen?
Seit dem Jahr 2005 zeige ich meine Daumenkinos in einem abendfüllenden Bühnenprogramm mit dem Titel: "Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt". Auf der Bühne blättere ich die Daumenkinos unter einer Videokamera ab, projiziere die Bilder auf die Leinwand und lasse meine ProtagonistInnen für einen Moment lebendig werden. Ich erzähle die Geschichte der Menschen, die ich fotografiert habe und berichte von den großen, kleinen, ernsten und skurrilen Zufallstreffen auf meinen Wanderschaften. So entsteht eine leichtfüßige und gleichzeitig tiefsinnige Reflexion über die Flüchtigkeit des Moments und die Bedeutung der menschlichen Begegnung.
Wo hast Du den Menschen Deine Daumenkinos gezeigt?
Die Aufführung "Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt" wurde bisher auf Kunst- und Theaterfestivals in 21 Ländern eingeladen. So kam ich etwa Ende 2017 aus Wuzhen in China zurück, davor war ich in Florida und Anfang des Jahres mehrere Wochen in Australien und Neuseeland. Ich mag es aber auch sehr, wenn ich meine Daumenkinos in unserer Region zeigen kann. So hatte ich beispielsweise einen sehr schönen Daumenkino-Abend im "Heidekrug" in Joachimsthal, und auch im ehemaligen Dorfsaal in Groß Dölln habe ich schon zwei Mal meine Daumenkinos vorgeführt. Auch das waren tolle Abende.
Was bedeutet Groß Dölln für Dich?
Vor sechs Jahren haben meine Frau und ich über das Internet ein Haus in Groß Dölln gefunden. Als wir damals nach der ersten Besichtigung einen Spaziergang machten, entdeckten wir am Waldrand einen Gedenkstein für Georg Schläfke, den Wildererkönig der Schorfheide. Wir dachten, ein Dorf, das einem Wilddieb einen Gedenkstein widmet, müsse etwas Besonderes sein. Und unser Gefühl stimmte. Eigentlich wollten wir erst viel später unseren Lebensmittelpunkt nach Groß Dölln verlagern, aber wir fühlten uns dort von Anfang an so wohl, dass wir beschlossen haben, im Sommer 2019 mit unseren Töchtern fest von Berlin nach Groß Dölln zu ziehen. Seit letztem Jahr habe ich bereits meine Dunkelkammer in unserem Haus eingerichtet und fertige dort die Abzüge für meine Daumenkinos an.
Was die Presse über Volker Gerling und seine Daumenkinos schreibt:
"Stiller, schlichter und schöner kann Kunst nicht sein." Tagesanzeiger Zürich
"Gerling gelingt, was der darstellenden Kunst öfter gelingen sollte: zu zeigen, was für ein unerschöpflich interessantes Thema Menschen sind." Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Volker Gerlings Daumenkinos sind künstlerische Preziosen, voller Leben, voller Aussagekraft: eine poetische Sensation." Augsburger Zeitung
"Der inzwischen zum Klassiker avancierte Daumenkinoabend von Volker Gerling zeigt ein Psychogramm der Republik in den Nullerjahren, so eindrücklich, unprätentiös, liebevoll wie selten ... Gerling ist nicht weniger geglückt, als eine neue Theaterform zu entwickeln." Theater der Zeit
Weitere Pressestimmen gibt es auf der Webseite von Volker Gerling: www.daumenkinographie.de. Dort kann man auch noch mehr über ihn und seine Daumenkinos erfahren.